BURSCHENSCHAFTLICHE BLÄTTER | 104 KULTUR ALS GEWACHSENES ERBE Um der Frage gerecht zu werden, muß man verstehen, was Kultur ist. Kultur ist kein dekoratives Bei- werk, kein musealer Schatz, den man nach Belieben ausstellt oder vernachlässigt. Kultur ist die Form, in der ein Volk lebt, denkt, fühlt und wirkt. Sie ist das Sediment aus Jahrhunderten, die in Sprache, Sit- te, Architektur, Musik, Kunst und Denken geronnen sind. Kultur ist das, was sich nicht von heute auf morgen austauschen läßt, weil es in den Gewohnheiten, den Gesten, den Liedern, den Überlieferungen steckt. Die deutsche Kultur existiert genau in diesem Sinne: als gewachsenes Erbe, das nicht zufällig, sondern T K N U P R E W H C S aus einer bestimmten geschichtli- chen Erfahrung heraus entstanden ist. Sie speist sich aus der Land- schaft, aus den Wäldern, Flüssen und Städten; sie trägt Spuren der Reformation, der Aufklärung, der Romantik, der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Wer sie leugnet, muß erklären, warum all diese Er- fahrungen spurlos am deutschen Volk vorübergegangen sein sollen. Aber nichts daran ist spurlos: die Dichtung Goethes, die Philosophie Kants, die Musik Bachs, die Roma- ne Thomas Manns – sie alle tragen unverkennbar eine Prägung, die aus diesem Volk hervorgegangen ist und anderswo nicht denkbar ge- wesen wäre. Ein oft vorgebrachtes Argument lautet, Kultur sei immer durch- mischt, nie rein, stets im Austausch mit anderen. Das ist richtig, doch es ist kein Einwand gegen das Vor- handensein einer deutschen Kultur, sondern im Gegenteil ein Beweis dafür. Denn Kultur zeigt sich nicht darin, daß sie hermetisch abge- schlossen wäre, sondern darin, daß sie fähig ist, Fremdes aufzunehmen und Eigenes daraus zu machen. Das Christentum kam aus dem Süden, aber in der Übersetzung Luthers gewann es eine Sprachgestalt, die das Deutsche prägte. Die Aufklä- rung war ein europäisches Projekt, doch nur in Königsberg nahm sie die Form an, die wir mit Kant ver- binden. Goethe reiste nach Italien, aber er brachte aus Italien nicht einfach Eindrücke zurück, sondern verwandelte sie in eine deutsche Kunst. Wer also auf „Mischung“ verweist, beweist in Wahrheit die Stärke jener Kultur, die fähig war, das Fremde zu assimilieren, ohne ihre Eigenart zu verlieren. DIE EIGENART DES DEUTSCHEN GEISTES Um zu verstehen, warum es eine deutsche Kultur gibt, genügt es, die eigene Geschichte nicht als Abfol- Immanuel Kant – großer Denker der Auf- klärung. Mit seiner „Kritik der reinen Vernunft” begründete er eine neue Epoche des Denkens. Foto: Wikimedia/CC BY-SA 2.5 ge bloßer Machtverschiebungen, sondern als Entwicklung geistiger Gestalten zu lesen. Ein Volk, das im Mittelalter noch zersplittert war, brachte dennoch Dichtung hervor, die in ihrer Kraft und Eigenheit nicht von einem „Europa im Allgemei- nen“ getragen sein konnte, sondern aus der spezifischen Erfahrungs- welt deutscher Fürstenhöfe, Bur- gen und Städte erwuchs. Später, als die Reformation ihren Durchbruch fand, zeigte sich er- neut, daß deutsche Kultur nicht in der Nachahmung fremder Muster besteht, sondern in der Fähigkeit, aus fremden Impulsen eine neue Eigenständigkeit zu formen. Luther war nicht der erste Übersetzer der Bibel, doch seine Übersetzung war die erste, die zur Sprache eines ganzen Volkes wurde. Das Deut- sche selbst wurde hier gleichsam geboren in seiner modernen Ge- stalt: ein Idiom, das nicht nur re- gional, sondern übergreifend wirk- te. Daß dieser Vorgang tief in die Strukturen des Volkslebens eingriff, daß er das Verhältnis zu Glauben, Autorität und Gemeinschaft dauer- haft prägte, ist kein Zufall, sondern ein Indiz dafür, daß sich in Deutsch- land eine Kultur artikulierte, die die Grundlagen des Lebens von Grund auf formte. Die Aufklärung, oft als internationa- ler Prozeß beschrieben, gewann in Deutschland eine andere Färbung als in Frankreich oder England. Während dort der Skeptizismus gegenüber Tradition und Kirche das Hauptmotiv war, blieb die deutsche Aufklärung von einer Neigung zum Systematischen, zum Grundsätz- lichen, zum Weltumspannenden durchdrungen. Ein Denker wie Kant konnte nicht aus einem Vakuum heraus entstehen, sondern nur aus einer kulturellen Konstellation, die Ernsthaftigkeit, Disziplin und die Bereitschaft zum radikalen Denken verband. Wenn man Kants „Kritik der reinen Vernunft“ aufschlägt, spürt man nicht nur philosophische Genialität, sondern auch die Hand- schrift eines Volkes, das gewohnt ist, den Dingen auf den Grund zu gehen und nichts bei oberflächli- chen Effekten zu belassen.