BURSCHENSCHAFTLICHE BLÄTTER | 86 alben des germanischen Mythos treiben nur zwei Dinge an: die Gier nach den jungen Leibern der Rhein- töchter und dem Gold des Rheines. Als der Zukurzgekommene, der doch nur „Friedel“ der Rheintöch- ter sein will, unter Hohn und Spott zurückgewiesen wird, raubt er das Gold der Nixen. Der ewige Verzicht auf die Liebe ermöglicht es ihm nun, aus dem Gold einen Ring zu schmieden, der ihm maßlose, to- tale Macht verleiht. Der Ring stellt – ökonomisch betrachtet – die Verwandlung „toter“ Rohstoffe in dynamisches Kapital dar. Mit buch- stäblich goldener Faust herrscht Alberich nun über die Unterwelt Nibelheim, in dessen Klüften das Zwergenproletariat der Nibelungen nach dem Willen des Ringträgers Tag und Nacht unter der Macht des Ringes ächzend schürfen muß. Durch seine Kraft / gewinn’ ich mir Reichtum / und der Reichtum kauft mir Macht! / Der goldene Reif, / den ich mir schmied’, / er zwingt mir die Welt! Das entfesselte Kapital, das nun stetig den Reichtum des Zwerges, vermehrt, stattet die nibelungi- schen Bourgeoisie mit ungeheurer politischer Macht aus. Diese ist aber nicht mehr durch die Insig- nien der Institutionen erkennbar, S E G I T S N O S sondern wirkt gespenstisch un- sichtbar. Der Tarnhelm, den ihm Alberichs Zwergenbruder Mime herstellen muß, symbolisiert diesen Aspekt der neuen, kapitalistischen Macht. In diesen Szenen der Oper Das Rheingold klingt also nicht nur Marxens Konzept der Akkumulation des Kapitals, wie sie im Band 1 des gleichnamigen Werkes ausgeführt wird, an, sondern zugleich seine Theorie von der Entfremdung des Menschen im Zuge der kapitalisti- schen Produktionsweise. Wie sehr Wagner Alberichs Alb- traumreich mit dem Kapitalismus identifizierte, geht aus einem Äu- ßerung des Komponisten hervor, die seine Frau Cosima 1877 bei einem Besuch Londons notierte: „Das ist Alberichs Traum, der hier erfüllt ist. Nibelheim, Weltherr- schaft, Tätigkeit, Arbeit, überall der Druck von Dampf und Nebel.“ STAAT, SCHULDEN UND VERSTRICKUNG Und nun kommt der Staat ins Spiel, der laut Shaw durch Wotan verkör- pert wird. Der Göttervater hat sich notgedrungen mit der kapitalisti- schen Macht eingelassen. Denn die monumentalen staatlichen Bauwerke – Wallhall insbesondere – können und müssen nun einmal finanziert werden: durch Schulden, faule Verträge und letztlich den Zu- griff auf die sich anbietende kapi- talistische Wertschöpfung. Diese führe aber geradewegs in Verstri- ckung, Abhängigkeit und Unrecht. Die Macht des Ringes, der laut Wag- ner auch ein gigantisches „Börsen- portefeuille“ widerspiegeln könne, durchdringt in Folge alle Beziehun- gen, er löst alle Bindungen, Rechte und Sitten auf. Der Jurist Ernst von Pidde (1877-1960), der den Ring des Nibelungen im Lichte deutschen Strafrechts untersuchte, kam zu ei- Ferdinand Leeke, Wotan und Brünnhilde. Staatsräson im Zwielicht: Wotan, der schul- dengeplagte Göttervater, als Allegorie auf den machtverstrickten Staat. Foto: Gemeinfrei nem eindeutigen Befund. Der Raub des Goldes – eines kriminologisch betrachtet „Protzdelikts, das die Kleinheit und Häßlichkeit des Tä- ters“ überdecken und verdrängen soll – setzt gleichwohl eine schier endlose Spirale durch Gier und Habsucht motivierter Straftaten von Mord, Totschlag bis hin zur Ver- gewaltigung in Gang. Insbesondere deshalb teilte Wagner mit seinem Geistesgenossen Marx die Erwar- tung, daß die Welt des Ringes, die auf „Papiergaunereien, Zinsen und Bankspekulationen“ beruhe, letzt- lich dem Untergang geweiht sei. Doch wie sah nun der revolutionäre Weg zur gegenweltlichen Alternati- ve aus? Hier schieden sich die zwei Geister. Der Dissens der Geistesge- nossen von Marx und Wagner, die Mitte des 19. Jahrhunderts an der geistigen Weggabelung standen, ist fundamental für die Geschichte der europäischen Rechten. Wagner schwebte für seine Opern, die er als Gesamtkunstwerk aus Musik, Text und Theater konzipier- te, eine ähnlich gesellschaftlich prägende Rolle vor wie jene der an- tiken Kultspiele. Er war überzeugt: der Kultus als Mythos in Aktion habe die archaischen Gesellschaf- ten der Griechen und Germanen derart geprägt, daß sich nicht durch eine ökonomisch-materielle Logik durchdrungen werden konn- ten. Er offenbare das eigentliche Wesen des Menschen und seine Bestimmung: so bist du, und so würdest du jenseits nichtiger Ab- hängigkeiten handeln. MATERIALISMUS VERSUS GEIST Dieser Antimaterialismus von Geist und Kunst sollte den revolutionären Weg weisen und aus „mühseligen Tagelöhnern der Industrie, schöne, starke Menschen machen, denen die Welt gehört als ewig unversieg- barer künstlerischer Quell“. Auf den Trümmern der überwundenen Welt würde er dann „am Rheine ein The- ater aufschlagen und zu einem gro- ßen dramatischen Fest einladen“. Ein Fest, das aber nicht der flüch- tigen kommerziellen Unterhaltung dienen, sondern eine andächtige